Ornament: Geschichte und Zukunft

Luisa Paumann und Werner Van Hoeydonck

 

Bildschirmfoto 2018-04-18 um 22.08.16

Otto Antonia Graf in Otto Wagner–denkend zeichnen–zeichnend denken, zur diagraphischen Methodologik, Böhlau 1999: Seite XII.

Ursprünge des Ornaments

Weshalb haben Menschen seit jeher Muster und Ornamente geschaffen? Ist das Schmücken und Verzieren ein menschliches Bedürfnis? Welchen Platz nimmt es heute ein?

Bei Natur-Völkern ist die Verwendung von Mustern und Symbolen auch heute noch ein wichtiges Ausdrucksmittel. Eng verbunden mit der Identität und dem Kult eines Stammes werden abstrakte Symbole, Formen und Muster auf den Körper gemalt und schmücken Gewänder, Gegenstände, Behausungen.

Die Anwendung von Mustern bei den Naturvölkern gibt uns zusammen mit den Funden Hinweise auf das Experimentieren der prähistorischen Menschen mit Formen und Zeichen. Wie genau jedoch deren Symbole und Muster aussahen und was sie damit ausdrücken wollten, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Die meisten Materialien haben die Jahrtausende nicht überlebt. Man kann aber davon ausgehen, dass Symbole und Muster allgegenwärtig waren und eine viel breitere Anwendung fanden.

Aus Höhlen und der Fähigkeit diese zu beleuchten, entstanden die ersten Innenräume. Hier wurden – neben Darstellungen des Menschen – vor allem die für die Jagd wichtigen Tiere und solche, die faszinierend und/oder gefährlich waren, auf die Wände gemalt bzw. gezeichnet. Neben und zwischen den Mensch und Tierzeichnungen findet man in Höhlen und auf Felswänden auch Zeichen und Symbole, die sexuelle Natur sind. Grundformen wie Dreiecke, Ovale, Spitzovale und Linien kommen separat und ineinander vor (s. Abb. 1).

abb-1

Abb. 1: aus Otto Antonia Graf, Otto Wagner 3 – Die Einheit der Kunst – Weltgeschichte der Grundformen, Böhlau 1990: Fig. 3, Paläolithikum: Älteste Zeichen, (S. 41)

Die eindeutig erotischen und sexuellen Motive reichen von anatomisch getreuer Notation bis zur komplexen Abstraktion. Wozu diese Höhlen dienten, bleibt ungewiss: Es wird vermutet, dass es sich um Kulträume handelte, um auf rituelle Weise den Jagderfolg und damit das Überleben des Stammes zu sichern. Im Mittelpunkt dieser Kulte standen zweifelsohne Sexualität und Fruchtbarkeit – sowohl die des Menschen als auch die der Natur.

Die gefundenen Frauenstatuetten, sogenannte Fruchtbarkeitsidole, zeigen ausgeprägte Kurven und betonen die Sexualformen des Körpers (s. Abb. 2). Neben der 30.000 Jahre alten Venus von Willendorf wurden ca. 200 solche Figuren aus der Steinzeit gefunden. Die meisten davon sind zwischen 28.000 und 12.000 Jahre alt. Das „MandorlenZeichen“ – der Mittelteil zwischen zwei ineinander geschobenen Kreisen – wird zusammengesetzt aus den beiden Erscheinungsformen des weiblichen Organs (Dreieck und Spitzoval) und nimmt, gemeinsam mit konkaven und konvexen Formen, eine zentrale Rolle im plastischen Gestalten ein.

abb-2

Abb. 2: aus Otto Antonia Graf, Otto Wagner 3 – Die Einheit der Kunst – Weltgeschichte der Grundformen, Böhlau Verlag 1990: Fig. 4, Paläolithikum: Figurative Grundformen, 2 (S. 41)

Einzigartig sind die Knochenstäbe, welche neben ca. 3.000 Utensilien und Schmuckstücken in Isturitz (Pyrenäen) entdeckt wurden. Auf diesen ca. 12.000 v. Chr. gefertigten Stäben sind komplette Liniensysteme geritzt (s. Abb. 3). Man kann von einer ersten Systematik der Grundformen sprechen: Einfache und doppelte Linien, Mandorlen, Voluten (gerollte Formen oder Spiralen), Mäander, Flechtwerke in spe, Palmetten und Wellenlinien. Liniensysteme, Quadrate und Dreiecksnetze verfließen mit erotischen Symbolen. Erste Muster lassen sich hypothetisch ableiten.

Dieses fast grammatikalische Ordnen der Formen kann als das älteste (erhaltene) Beispiel einer systematischen Reflexion über die Transformationsmöglichkeiten der Grundformen gesehen werden.

abb-3

Abb. 3: René de Saint-Perier, „La Grotte d’Isturitz, Archives de l’Institut de Paleontologique humaine“, Mémoire 7, 1930 und Mémoire 17, 1936. Publiziert in Otto Antonia Graf, Otto Wagner 3 – Die Einheit der Kunst – Weltgeschichte der Grundformen, Böhlau: S. 44 – 45

Jahrtausende später finden wir die Grundformen unter anderem in Çatal Höyük, einer der ältesten erhaltenen Siedlungen, wieder – vereinzelt oder in bereits entwickelter Musterform. Diese in Anatolien liegende prähistorische Siedlung, welche ihren Höhepunkt ca. 7.000 v. Chr. hatte, liefert viele Beispiele dafür, wie die erotischen Zeichen zu frühen Mustern und Ornamenten weiterentwickelt wurden: Stempel, Wandmalereien, Statuetten, Gebrauchsgegenstände und Tierstatuen. (Abb. 4)

abb-4

Abb. 4: Otto Antonia Graf, Otto Wagner 3 – Die Einheit der Kunst– Weltgeschichte der Grundformen, Böhlau 1990: Fig. 13: Catal Höyük: Grundformen, Stempel, 3 (S. 51)

Die elementaren GrundFormen verfließen weiter zu neuen Anordnungen und Kombinationen – die Muster werden immer komplexer. In verschiedenen Siedlungen im Nahen und Mittleren Osten (Hacilar, Samarra, Tell Halaf, Arpatschiyya, Susa A) entwickelte sich in der Folge die eigene Kunstform des Ornamentierens. Diese äußert sich zuerst hauptsächlich auf Keramik. Die Vasenmaler spezialisieren sich auf das kreisförmige Anordnen der Grundformen in Kombination mit Motiven, Symbolen und Mustern. Jeder Kulturkreis entwickelt neue Varianten und Symbole.

Auch im matriarchalen, friedlichen „alten“ Europa (7.000 – 3.500 v. Chr.) entwickelt sich laut Marija Gimbutas eine eigenständige,   regional unterschiedliche Formensprache und Symbolik, wodurch die Menschen der Vorzeit das „Große Mysterium“ ausdrückten. Diese Sprache hatte ihren Ursprung im täglichen gesellschaftlichen und kultischen Leben. Die Natur war die einzige Gottheit, die sich jedoch in verschiedenen Kategorien von lebensspendenden oder lebenzerstörenden Göttern offenbarte: Leben und Fruchtbarkeit, Tod und Geburt sind auch hier die Hauptthemen. Tiere und Muster verfließen zu einzigartigen Gestalten, Statuetten und Vasen. Sie werden so wie auch im Nahen und im Mittleren Osten mit symbolischen Kräften aufgeladen. Obwohl die regionalen Unterschiede sehr groß sind, sind die Ähnlichkeiten noch größer: Es werden die gleichen Basisformen und Muster verwendet. (Mehr dazu in Marija Gimbutas, Die Zivilisation der Göttin – Die Welt des Alten Europa, Zweitausendeins 1996: ab S. 221)

Die um ca. 3.000 v. Chr. in Uruk (Irak) entstandene Rollsiegeltechnik vereinfachte und bereicherte – neben die Stempeltechnik – das Erschaffen von Mustern weiter: Das Ornament breitet sich in der Fläche aus, wird immer räumlicher (Vasen, Statuetten) und erreicht das Bauen und später die Baukunst. Für Professor Dr. Otto Antonia Graf (emeritierter Professor der Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste, Wien) werden in der Baukunst Muster und Ornamente „erräumt“: Linien werden zu Mauern, Punkte zu Säulen. Das Gebäude und seine Ornamente werden aus der gleichen sinnlichen Formensprache der Grundformen (s. Abb. 5) entwickelt.

abb-5-grundformen

Abb. 5: Die Grundformen bestimmen weltweit die ornamentale Kunst.

a. Isis-Kreis (genannt nach der ägyptischen Schönheitsgöttin Isis, die dieses Motiv als Muster auf ihrem Kleid trägt),

b. Isis-Kranz,

c. Peripteros (Tempel mit äußeren Säulenrand),

d. Schuppenmuster,

e. f. g. Wellenlinie 1./2./3. Grades,

h. Vierpass aus 5 Kreisen,

i. Vierpass aus 4 Kreisen,

j. Rosette – Lorbeerblatt (oder Mandorlen-Kreis),

k. Netz des Quadrates,

l. Netz des Dreiecks,

m. Flechtbandrolle.

Zeichnung: Werner Van Hoeydonck nach Otto Antonia Graf in Otto Wagner–denkend zeichnen–zeichnend denken, zur diagraphischen Methodologik, Böhlau 1999: Seite XII. 

Diese elementaren Formen (s. Abb. 5) wirken so wie deren Transformationen auf uns harmonisch, weil sie – auf abstrahierte Weise – die Gestaltungsprinzipien der Natur sowie des Kosmos als Form wiedergeben. Wir verstehen die Grundformen instinktiv. Sie sind die Basis dessen, was sich auch als Manifestation einer Formkraft bezeichnen lässt. Für Teilhard De Chardin ist diese Formkraft, die aus Energie Materie formt, die Liebe selbst: „In ihrer biologischen Realität betrachtet, ist die Liebe (das heißt, die Anziehung die ein Wesen auf ein anderes ausübt) nicht auf den Menschen beschränkt… Wenn nicht schon im Molekül… eine Neigung zur Vereinigung bestünde, so wäre das erscheinen der Liebe auch auf höherer Stufe, in ihrer menschlichen Form, physisch unmöglich… Mit den Kräften der Liebe suchen die Fragmente der Welt einander, auf das die Welt sich vollende… das abgetrennte Teilchen, das bebt, wenn seine Ergänzung sich nähert… (Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, C.H. Beck 1949, München)

Für Graf ist der (künstlerische) Mensch ein Schaffender: Die Kunst, die Liebe ist, wüchse über das Leibliche hinaus und errichte einen Kosmos rund um den Menschen als Ausdruck ihrer selbst. (Im griechischen bedeutete das Wort Kosmos ursprünglich Anordnung oder auch Schmuck.) Laut Graf müsse der Künstler sein Potenzial und seine Potenz gestalten – seine Liebe zum Menschen und zur Natur. Die Linie sei das in Form gesetzte künstlerische Liebkosen und die Grundformen seien Erscheinungsweisen von Glück und Sehnsucht des Eros. Sie vereinten das Liebkoste und das Liebkosen zur baukünstlerischen Gestalt und Gestaltenfülle oder zur Form gewordenen Zärtlichkeit. Die Formen, die sich untereinander friedlich-erotisch begegnen ließen sich gut kombinieren und transformieren.

Die Künstler schöpften und schöpfen das Potenzial dieser elementaren Formen in aller Vielfalt in den verschiedensten Hochkulturen der Welt aus. Siehe dazu Otto Antonia Graf: Otto Wagner 3 – Die Einheit der Kunst – Weltgeschichte der Grundformen. In über 1.000 analytische Skizzen beschreibt Graf die (ornamentale) Kunst als weltgeschichtliche Erfahrung der Liebeskraft.

Ornament als Begriff stammt vom Lateinischen „ornare“– was schmücken, zieren, ordnen oder ausstatten bedeutet. In meiner Muttersprache, dem Flämischen, besagt „versieren“ – neben schmücken – auch jemanden verführen. Man braucht sich nur das prächtige Federkleid eines balzenden Pfaus vor Augen halten um sich über den Zusammenhang zwischen schmücken und verführen klar zu werden. Das Ornament in seiner Verführungs- und Anziehungskraft ist Ausdruck der (menschlichen) Natur. Das Ornament bündelt die Aufmerksamkeit. Aber auch seine Harmonie verführt: Verführung durch Schönheit, die einem erhebt und die Seele anspricht. Ornamente, Muster oder Gebäude, die ursprünglich und integer „erräumt“ werden, sind „Emanationen“ der Grundformen. Emanation bedeutet das Hervorgehen von etwas aus seinem Ursprung, z. B. die Lichtausstrahlung aus der Sonne, das Wasser aus einer Quelle, oder, gestalterisch betrachtet, die „Erräumung“ aus einem Punkt.

Zukunft des Ornaments

Wenn man davon ausgeht, dass die Grundformen eines integren Ornaments direkt dem Menschsein bzw. seinem Sein in der Welt entstammen, dann ist das Ornament – auch wenn es seinen archaisch-symbolischen Charakter zumindest vordergründig verloren hat – immer aktuell und zeitlos. So wie die Natur selbst ist es (bzw. seine Grundformen) universell und allgegenwärtig. Das Verstehen der Grundformen ist weltweit ähnlich, weil es intuitiv erfolgt. Es kommt nicht von irgendwo, dass selbst das Unterbewusstsein mit Symbolen und Zeichen „arbeitet“. Wenn wir das Ornament in diesem breiten Zusammenhang begreifen, dann steht es nicht für Unterschiede, sondern für den tiefen Zusammenhalt der Welt. Indem es die Menschen mit ihren Ursprüngen – den Gestaltungsprinzipien des Lebens– verbindet, verbindet es sie auch untereinander. Aus dieser Völker verbindenden Funktion heraus ist in Zusammenarbeit mit dem Wiener Siebdrucker Andreas Stalzer der Siebdruck “Bruchstücke einer zukünftigen Gegenwart Nr. 1” entstanden (s. Abb. 6).

img_9680-3_srgb-kopie

Abb. 6: Werner Van Hoeydonck, Bruchstücke einer zukünftigen Gegenwart Nr. 1, 2016, Serigrafie mit 5 Sieben. Auflage: 30 Stück, 50 x 65 cm, Rives Büttenkarton 250 g/m2. Druck: Werkstatt für Kunstsiebdruck, Andreas Stalzer. Fotocredit: Bernhard Schramm.

Der Siebdruck befasst sich unter anderem auch mit einem scheinbaren Gegensatz, dem sich das Ornament heute gegenübersieht: Die Kluft zwischen der menschlichen, sensuellen Handzeichnung (Handwerk) und der perfekten, unpersönlichen Computerzeichnung bzw. der maschinellen Produktion (Print, 3D-Print, Lasercut, etc.). Die Computer-Zeichenprogramme bieten Vorteile und Herangehensweisen, die sich der  Künstler zu Nutze machen kann und meiner Meinung nach sollte.

Obwohl dies die Gefahr eines oberflächlichen Umgangs mit dem Ornament mit sich bringt – oft entsteht ein zusammenhangloses Patchwork und kopieren von Motiven. Das Entwerfen von Ornamenten darf sich nicht nach dem Computer und seinen automatisierten Funktionen richten– der Künstler selbst muss Schöpfer bleiben. Ob man von einem bestehenden, inspirierenden Motiv ausgeht und es transformiert oder „emanierend“ entwirft – d.h., aus einen Punkt heraus Neues entstehen lässt –, ist unwichtig: Ziel ist es, neue Ornamente (mit neunen Mitteln) zu kreieren, die dem Menschen aber weiter zugänglich – weil in ihm selbst verwurzelt – bleiben. Die Weiterentwicklung der ornamentalen Kunst braucht die Vereinigung des Gefühls für sinnliche, sinnvolle Formen mit den neuen Entwurfstechniken und Produktionsmöglichkeiten. Das Studium der Entwicklungsgeschichte des Ornaments ist dabei hilfreich und inspirierend: Je besser man die Transformationstechniken der Vergangenheit versteht, desto mehr Zukunft ist dem Ornament gegeben.

WIEN, Sommer 2016,

publiziert in FAIR, Zeitung für Kunst, Architektur & Ästhetik Nr. 14 / 2016


Werner Van Hoeydonck (°1969) studierte Architektur in Gent bei Gilbert Decouvreur (1987-1992) und spezialisierte sich in die Architekturornamentik bei Prof. Dr. Otto Antonia Graf an die Akademie der Bildenden Künste, Wien (1993-1996). 2000 gründete er „Tek7 Architekten“ in Antwerpen und realisierte innerhalb von 10 Jahren über 100 Projekte. 2012 übersiedelte er mit seiner Familie nach Wien und gründete 2014 „Ornamental Art & Design“. Werner Van Hoeydonck entwirft Muster und Ornamente für verschiedene Anwendungen und bietet in seinem Atelier Workshops rund um das Thema Ornamente und Muster an. Seit 2016 unterrichtet er an der Kunst VHS, seit 2017 in der Zeichenfabrik. Seit WS 2017 ist Werner Van Hoeydonck Univ. Lektor am Institut für Kunst und Gestaltung, TU WIEN. Seit WS 2018 Univ. Lektor für darstellende Geometrie am Institut für Kunst und Architektur, Akademie der bildenden Künste, Wien.

Pinterest Link Werner Van Hoeydonck.

Kommentare & Anregungen: werner@vanhoeydonck.com

 
What do you want to do ?

New mailCopy

Leave a comment